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  Warum gerade die Beatles?
Untersuchung zu dem Phänomen, daß von allen Liverpooler Gruppen allein die BEATLES den großen Durchbruch schafften.

Von TIBOR KNEIF

Fast vierzig Jahre nach der ersten Single der BEATLES ("Love me do"/"P.S.I love you" vom Oktober 1962) und der beginnenden kommerziellen Ausbeutung des Liverpool-Sound fällt es mitunter schwer, die echten Mersey-Gruppen von den übrigen britischen zu unterscheiden.


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Bedingt ist dieser Umstand teilweise durch die Manipulation einiger Plattenfirmen, die zwischen 1963 und 1966 auch Formationen eine Liverpooler Herkunft andichteten, die mit der Stadt wenig oder gar nichts zu tun hatten.

Unter dem irreführenden Namen Liverpool Hop zum Beispiel enthält eine 1965 veröffentlichte Sampler-Platte auch die Musik von THE DAVE CLARK FIVE, THE HOLLIES, DOWNLINER SECT und anderen nicht-Liverpooler Bands (D: EMI Columbia SMC 83983). Obwohl 1962 noch äußerst mißtrauisch gegenüber der Beat-Bewegung, brachte Decca Records (die BEATLES wurden bekanntlich von ihr abgewiesen) später allerlei Gruppen recht wahllos unter dem absatzfördernden Etikett Mersey-Beat heraus. So erscheinen BERN ELLIOTT & THE FENMEN auf dem Decca-Sampler Recorded live at The Cavern - Original Liverpool Sound; in Wirklichkeit stammte die Gruppe aus Kent. (D: BLK16294-P).

Telefunken-Decca führt die Öffentlichkeit bis in die Gegenwart hinein an der Nase herum: die 1974 veröffentlichte Doppel-LP Mersey-Beat a Liverpool (D: DS 3240/1-2) enthält wiederum Dave Clark, sodann drei Stücke von BRIAN POOLE & THE TREMOLOES aus Essex, von THE ROCKIN' BERRIES aus Birmingham sowie THE TORNADOS, die auch keine Liverpooler waren.

Abgesehen von Irreführungen dieser Art wird eine spätere Identifikation von Merseyside- Gruppen noch dadurch erschwert, daß einige von ihnen zur gleichen Zeit unter verschiedenen Namen auftraten. Allgemein bekannt dürfte sein, daß die BEATLES als Begleitband des englischen Popsängers Tony Sheridan ihre erste Einspielung "My Bonnie/"The Saints" unter dem Decknamen THE BEAT BROTHERS erscheinen ließen (Polydor 24673).

Um 1962 waren in und um Liverpool über dreihundert Formationen tätig, und in den darauffolgenden Jahren dürfte sich diese Zahl beträchtlich erhöht haben. Unter ihnen brachten trotzdem nur verschwindend wenige Gruppen eine oder mehrere Platten hervor, so daß der Umkreis von Musikern mit Schallplattenverträgen sich einigermaßen überblicken läßt, trotz der von einigen Firmen gestifteten Verwirrung. Da sich alle Plattenfirmen während des Liverpool-Booms um 1963 -1965 gegenüber der musikalischen wie der spieltechnischen Güte der lokalen Bands äußerst nachsichtig verhielten, kann man sogar annehmen, daß alle Gruppen der Mersey-Gegend tatsächlich einen Schallplattenvertrag erhielten, die überhaupt einen Anspruch auf Beachtung hatten. Das unter den etwa zwanzig die durch Einspielungen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurden, sich auch die BEATLES befinden, versteht sich von selbst. Hier aber interessiert die Frage, warum es ausgerechnet den Beatles gelang, eine auch rückblickend noch atemberaubende Karriere künstlerischer und wirtschaftlicher Art hinter sich zu bringen. Warum den BEATLES, warum nur ihnen, warum nicht einer anderen Gruppe aus Liverpool?

Auch wenn man das Gruppenbestehen der Beatles von der Zeit rechnet, in der sie noch in stark wechselnder Besetzung unter Namen wie THE QUARRYMEN, THE MOONDOGS und JOHNNY & THE SILVER BEATLES spielten, können sie nicht als die älteste Rockgruppe der Mersey-Gegend angesehen werden.. Denn RORY STORM & THE HURRICANES (mit Ringo Starr als Schlagzeuger), GERRY & THE PACEMAKERS und KINGSIZE TAYLOR & THE DOMINOES waren mindestens ebenso früh tätig und im bewegten Rockleben der Stadt bekannt. Und die früheste Single-Veröffentlichung? Im Rockbereich gilt der Satz buchstäblich , daß nichts so erfolgreich wie der Erfolg selbst sei; eine Gruppe,die eine Schallplatte herausbringt, besitzt durch diese Tatsache allein eine gestiegene Chance, im Plattengeschäft voranzukommen. Aber dieser Grundsatz versagt in Liverpool, denn von allen Lokalgruppen stand nicht der Name der BEATLES, sondern einer sonst drittrangigen Formation HOWIE CASEY & THE SENIORS auf der ersten und frühesten Single von Liverpool. Die BEATLES waren nicht einmal britische Pioniere in Hamburgs Reeperbahn-Lokalen. Es waren vielmehr DERRY & THE SENIORS, deren erfolgreiches Gastspiel die Hamburger Manager erst auf Liverpool aufmerksam machte. Und Brian Epstein, der spätere Manager mit der glücklichen Hand, sollte außer den BEATLES mehrere andere Bands in Großbritannien und in den USA betreuen, unter denen keine auch nur eine vergleichbare rockgeschichtliche Bedeutung besitzt, wie sie den Beatles zukommt. Die Frage bleibt also: warum gerade die BEATLES?

Zweifelsohne erarbeiteten sich die Beatles im Selbstunterricht eine beachtliche Spieltechnik, die sie in Hamburg weiter verbessern konnten. Das veröffentlichte 1962er Tonband aus dem Star Club läßt keine dilletantische Unsicherheit mehr spüren. Aber regelrechte Virtuosen ihrer Instrumente waren die BEATLES bis zuletzt - also bis zu ihrer Trennung im Jahre 1970 - nicht. Jedenfalls waren etwa die SEARCHERS spieltechnisch den berühmteren BEATLES weit überlegen, wie das ihr im Star Club aufgenommenes Live-Album und vor allem ihre Studioeinspielungen eindrucksvoll bezeugen. Das gleiche kann von weiteren Gruppen wie THE BIG THREE und THE REMO FOUR gesagt werden.

Auch im Hinblick auf die Stimmqualität wirken die BEATLES in der Frühzeit nicht überwältigend, obwohl sie gegenüber den meisten Gruppen deutlich im Vorsprung waren. Daß Musikern wie RORY STORM & AND THE HURRICANES und KINGSIZE TAYLOR & THE DOMINOES nicht der große Durchbruch gelang, lag vermutlich an der Unzulänglichkeit ihrer Vokalstimmen. Aber die SEARCHERS bestehen auch hier jeden Vergleich mit ihren geschmeidigen , wandlungsfähigen Vokaleinsätzen, wie sie in "Needles and pins", "Don't throw your love away" und "When you walk in the room" zu hören sind. Über einnehmende Vokalstimmen verfügten zumindest noch THE SAXONS, THE ESCORTS, MARK PETER'S & THE SILHOUETTES, THE DENNISONS. THE MOJOS und IAN & THE ZODIACS.

Überliefert wird, daß die BEATLES nicht zuletzt durch ihre Bühnenaktion dem jugendlichen Publikum gefielen, und man kann sich leicht vorstellen, daß jene unsäglich komischen Possen, die John Lennon kurze Zeit später in Washington und im New Yorker She-Stadium riß, im beengten Cavern-Club erst recht ihre Wirkung getan hatten. Aber auch hier drängen sich Vergleiche mit anderen Bands auf. Da gibt es glaubwürdige Berichte darüber, daß auch RORY STORM & THE HURRICANES, FARON'S FLAMINGOS, THE MERSEYBEATS und THE MOJOS eine fesselnde Bühnenshow boten. Und ein hübsches Gesicht, wie Paul McCartney eines besaß, konnten die in den vordersten Reihen hockenden Mädchen ganz gewiß auch bei anderen Bands anstarren.

Näher kommt man schon dem "Geheimnis" der BEATLES, wenn man ihr Repertoire mit dem anderer Gruppen vergleicht. Zunächst gilt allgemein, daß die Bands in Liverpool ( wie auch in anderen britischen Städten, ausgenommen die stark vom Rythm and Blues beeinflußte Hauptsstadt) an den amerikanischen Hits der Zeit ausgerichtet waren, die mit Mädchengruppen wie die CHRYSTALS und THE SHANGRI-LAS, mit Soulgruppen wie THE ISLEY BROTHERS und mit den Songschreibern von Schnulzen aus dem Brill Building in New York verknüpft sind. Dabei spielten die Liverpooler auch manche amerikanische Titel nach, die sonst in England unbekannt waren. Dieser Umstand geht auf jene zahlreichen Seeleute zurück, die ihr Einkommen durch den Handel mit aus den USA heimgebrachten Schallplatten aufbesserten.

Innerhalb des Spielrepertoirs der Merseyside-Gruppen läßt sich eine ältere Rock'n'Roll-Schicht von einer jüngeren unterscheiden. Zu der erstgenannten gehörten Stücke von Bill Halley wie etwa "Skinny Minni", Little Richard's "Long Tall Sally" und vor allem Eigenkompositionen von Chuck Berry wie "Little Queenie" oder "I'm talking about you". Musikstücke dagegen, die Elvis Presley bekannt gemacht hatten, sind im Spielplan der Liverpooler Lokalgruppen so gut wie nicht zu finden. Dies ist im Hinblick auf das sinkende Künstlertum Presleys um 1960 an sich schon ein beachtliches Qualitätszeichen (schon um diese Zeit beweisen die Briten also mehr künstlerischen Instinkt als die Deutschen). In die jüngere Schicht des Spielrepertoires gehören Kompositionen von Ray Charles ("Got a woman", "WhatI'd said"), Barry Mann/Cynthia Weill ("She's shure the girl I love"), Berry Gordy jr. ("Money", "Do you love me", Shake Sherry", Jack Nitzsche ("Needles and Pins") und vor allem von dem erfolgreichen Songschreiber-Duo Jerry Leiber/Mike Stoller mit zahlreichen Titeln, die nicht zuletzt infolge der witzigen Interpretationen der COASTERS verbreitet waren ("Little Egypt", Love Position No. 9", "I'm a hog for you", "Kansas City" usw.). Diesem Vorrat an an Spielstücken entspricht in etwa auch das Repertoire der BEATLES während ihrer Hamburger Zeit in den Jahren 1960-1962. Das Doppelalbum, daß einige ihrer Auftritte im Star Club festhält, umfaßt insgesamt 26 Kompositionen, unter denen drei von Chuck Berry, weitere drei von Carl Perkins, zwei von Ray Charles sowie je eine von Chan Romero, von King Curtis und von Phil Spector. Auch "Twist and Shout", das 1962 in der Interpretation der ISLEY BROTHERS Furore machte, fehlt nicht.

Eigenartigerweise sind aus der Hamburger Zeit nur zwei eigene Kompositionen von Lennon/McCartney überliefert, "I saw her standing there", "Ask me why". Indessen ist bekannt, daß die beiden BEATLES schon in der Frühzeit eifrige Songschreiber waren und daß sie es bis etwa 1962 auf über fünfzig selbstkomponierte Stücke gebracht haben. Davon sind nur wenige auf Schallplatten erschienen. Zu ihnen gehören "Love me do" und das erst auf dem Let it be-Album verwertete Stück "One after 909". Aber Lennon und McCartney erwarben sich auf jedem Fall eine Fertigkeit im Textschreiben und im Komponieren., über die andere Liverpooler Rockmusiker nicht verfügten. Freilich kam es vor, daß eine Band auch mal eine eigene Komposition vortrug, aber das gehörte zu den Ausnahmen. Dagegen waren die BEATLES in den Rockkreisen der Stadt immer schon deshalb bekannt, weil sie viel eigenes Material vortrugen.

Nicht minder wichtig als dieser schöpferische Impuls erscheint die musikalische Eigenart der frühen, von den ersten Singles und Alben her bekannten Stücke von Lennon und MCCartney. Während die übrigen Liverpooler Gruppen, sofern sie auch Eigenes verfaßten, sich zumeist an das Erfolgsrezept der oben genannten amerikanischen Songschreiber anlehnten, springt in den Kompositionen von John Lennon und Paul McCartney ein heimatlich europäischer Zug ins Auge. Kein einziges Stück bedient sich des zwölf- oder achttaktigen Bluesmodells, das in den USA gerade um 1960-1962 bereits zu einer großstädtischen Trivialität herabgesunken war. Mit einem sicheren Gespür werden von den beiden Liverpoolern auch harmonische Rückungen und alle sonstigen Billigstmittel der Schlagerindustrie gemieden.

Was aber vor allem auffällt, ist der volksliedhafte Ton. Er bekundet sich in einigen knappen Textwendungen (etwa "Schließ deine Augen, ich will dich küssen, /morgen werd ich dich vermissen") ebenso wie in den altertümlich anmutenden modalen Tonarten, die heute nur noch in manchen überlieferten Volksliedern fortleben. Mit großer Terz (Intervall von drei Tonstufen; der dritte Ton vom Grundton aus), aber kleiner Septime (7. Ton der diatonischen Tonleiter, das Intervall der 7. Stufe), also in einer Kirchentonart des Mittelalters, verläuft etwa "I wanna be your man". Das Schwanken zwischen großer und kleiner Terz, auch zwischen großer und kleiner Septime ergibt dabei nicht bloß Varianten ein und derselben Tonstufe, wie beim Blues (dessen Gesamtintonation hier freilich anregend gewirkt haben mag), sondern führt zu farbenreichen Wechselakkorden und bringt also ganz andere Konsequenzen mit sich, als in der schwarzamerikanischen Gattung. In "All my loving", das in C-Dur steht, bildet der Ton b, der am Schluß der dritten Zeile erscheint ("...always be true"), nicht bloß eine Abwandlung, eine Eintrübung von h, sondern er verselbstständigt sich zum Grundton des Akkords b-d-f und lenkt damit überraschend und vorübergehend nach der zweifachen Subdominante (die Unterdominante, die 4.Stufe einer Tonart) ab.

In den genannten Musikstücken findet sich eine weitere Eigentümlichkeit alter Volkslieder. Es ist das Schwanken zwischen Haupt- und Paralleltonart, also zum Beispiel zwischen C-Dur und a-moll. Viele protestantische Kirchenlieder aus der Lutherzeit besitzen ebenfalls dieses Merkmal. Ein Beispiel dafür bietet aus dem frühen Schaffen der BEATLES "and I love her", das bis zum Schluß unentschieden zwischen Es-Dur und c-moll verläuft (es endet mit C-Dur), ebenso "Not a second time", das ganz ähnlich zwischen c-moll und Es-Dur schwankt. Ein eindeutig klärender Schluß wird hier in der Weise raffiniert vermieden, daß der letzte Akkord die Töne c-es-g-b enthält und somit zweideutig bleibt, denn er kann als c-moll mit hinzugefügter kleiner Sept aufgefaßt werden, aber auch als Es-Dur mit hinzugefügter Unterterz.


Beispiele dieser Art ließen sich weiter vermehren. Sie legen die Ansicht nahe, daß die BEATLES dem glatten, konfektionierten Liedmaterial aus den USA, eigenständig europäische, von englischen, schottischen und irischen Volksliedern inspirierte Kompositionen entgegensetzten, deren frische Unmittelbarkeit - verbunden mit modalen Tonleitern und einer durch sie ermöglichten reichen Harmonik - letzten Endes die Originalität der Liverpooler Vier in ihrer Frühzeit ausmachten.

Zum erstenmal in der Rockgeschichte wurde damit bewiesen, daß Rock auch ohne die jede schöpferische Regung aufsaugende und aushöhlende US-Musikindustrie möglich ist, ja, daß er dem amerikanischen künstlerisch überlegen sein kann, wenn sich Talent und Begeisterung miteinander verbinden. Während Tommy Steele, Billy Fury und andere Musiker der ausgehenden fünfziger Jahre in England entweder amerikanische Hits nachsangen oder einheimische Schnulzen vortrugen, fing die europäische Rockgeschichte mit den Beatles an, um ihrerseits den substanzlosen US-Poprock zu verdrängen, in Europa ebenso, wie - vorübergehend - in den Vereinigten Staaten selbst.
 



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