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  Die Beatles in Hamburg – eine private Vorgeschichte
Schon oft wurde unser "Rockopa" Peter Kaschel darum gebeten, seine Erinnerungen an die hautnah miterlebte Hamburger Zeit der Beatles niederzuschreiben. Hier ist sein spannender Bericht.

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In den ersten Monaten dieses Jahres wurde ich zum wiederholten Male via PN, Mail oder gar traditioneller Post gebeten, zu meinen Hamburger Beatles-Kontakten in den sehr frühen Sechzigern erzählend Stellung zu nehmen.
Das hatte ich (für mich persönlich im stillen Kämmerlein) abgelehnt, denn „gebranntes Kind scheut das Feuer“, nachdem zu Beginn meines Felder-Daseins um das Millennium herum entsprechende Schilderungen meinerseits zu Vorwürfen (Profilneurotiker!), gar ominösen Recherchen über mich geführt hatten.
Nun war ich aber erneut mehrfach gebeten worden...
Ich würde gern einmal reflektieren, wie es überhaupt dazu kam, dass ein noch nicht 17jähriger aus der Provinz sich in die Weltstadt Hamburg katapultieren ließ. - Dies hat weitgehend mit einer regionalen politischen Entwicklung zu tun, die – wenn überhaupt – nur Ältere kennen oder nachvollziehen können.

Fang' ich doch einfach mal an:

Teil I

Ich bin Ende der Vierziger, Anfang der Fünfziger unter Tommies (= britischen sogenannten „Besatzern“) groß geworden. Wilhelmshaven als einst größter Kriegshafen Europas, als Stadt mit den in Relation zu ihrer Einwohnerzahl meisten Bunkern Deutschlands, mit der größten Schleusen-Anlage der Welt (Raeder-Schleuse), monumentalen U-Boot-Bunkern, riesigen Dockanlagen war überschwemmt von englischen (und kanadischen) Soldaten. Ich möchte nicht so weit gehen zu sagen, dass eine Kulturvermischung stattgefunden hat, aber wir im nördlichen Bereich der BN (Britische Zone Niedersachsen) unterlagen doch sehr stark britischem Einfluss: Sprache, englische Kultur, Kaffee, Tee, Schokolade, Zigaretten, gegenseitige Einladungen, Integration von englischen Soldatenkindern in unsere Sportvereine, zunehmendes Vertrauen statt Misstrauen, vor allem aber Musik, Musik, Musik! Schon als ca. Zehnjähriger, also etwa Mitte der Fünfziger Jahre, war ich, ob ich wollte oder nicht, dem Einfluss aktueller englischer/ britischer Musik unterworfen. Und schon bald kam die Zeit, da ich englischen (irischen) Skiffle und andere Vorstufen des Rock 'n Roll noch schöner (!) fand als Conny Froboess' „Pack die Badehose ein“ oder Caterina Valentes „Ganz Paris träumt von der Liebe“. Der NWDR wurde langweilig; es gab nur noch BFBS (British Forces Broadcast Service), AFN (American Forces Network) sowieso, während es in den Trümmern des allmählich auferstehenden WHV permanent knallte: Die Tommies versuchten (vergeblich!), die Raeder-Schleuse sowie andere Hafenanlagen und Bunker in die Luft zu sprengen; die Ziel-Übungs-Abwürfe britischer Bomben auf Helgoland taten ein übriges, dass Schlicktown über Jahre von Explosionsgeräuschen erschüttert wurde...


Die Wilhelmshavener Ernst-Raeder-Schleuse im Jahr 1945

So wuchs ich auf – vor dem, zum und nach dem Beginn der Fünfziger Jahre: um uns herum englische Soldaten, englische Zeitungen, englische Musik, englische Schallplatten, nicht selten in der Arztpraxis meines Vaters englische Patienten, allerlei Tauschgeschäfte mit den Tommies bis hin zu Freundschaften mit dem Ex-“Erzfeind“...
So lässt sich daraus vorsichtig ableiten, dass die Küstenregionen, speziell Hafenstädte, intensiveren, auf jeden Fall früheren Kontakt zu den Besatzern hatten als das Binnenland. Bis die Tommies entfleuchten, kann ich meine Kindheit also durchaus als britisch mitgeprägt – mit mancherlei Extrakenntnissen – bezeichnen.
Ab Mitte der Fünfziger Jahre kam es zu ständigen Treffen von deutschen Ex-Marine-Crews (mein Vater war im 2. WK Schiffsarzt gewesen) zwischen Kiel, Hamburg, Wilhelmshaven, und ich begann das häufige Mitreisen-Dürfen in fremde Städte zu genießen. Dieser „Pendelverkehr“ brachte mich Knäblein schon früh und oft nach Hamburg, wo meine Eltern nicht nur Kriegskameraden plus Familien, sondern auch Kulturstätten wie vor allem das „Hansa-Theater“ (in dem der populäre Komiker Peter Piet ständig gastierte) besuchten.
So, das wär's erst mal, um Nicht-Zeitzeugen zu verklickern, warum ein Jüngelchen so früh „und überhaupt“ vom britischen Rock geprägt wurde, schon sehr früh Kenntnisse von Gruppen aus Liverpool und anderen englischen Städten zwangsläufig erhielt, bevor er 1960 ersten Kontakt mit den Beatles hatte.
The rest is history.

Teil II
(With a little help from my son) : Ich diktiere, er tippt.

DIE VORSTUFE ZUM „KAISERKELLER“ WIRD GEZÜNDET!

...das, was ich von den Tommies ergattern konnte außer Schokolade und anderen Süßigkeiten, nahm ich dankbar an, besonders die Heimatzeitungen der Soldaten – nicht um der englischen Sprache, die ich eh kaum verstand, willen, sondern um auf diese Weise etwas von der großen, weiten Welt zu erfahren: Bilder, Fotos, manchmal tatsächlich auch Textteile.

Auf der Rückfahrt von der Schule (nach dem traditionellen Kauf von einem Stück Kuchen (5 Pfennig) beim Bäcker) blieb ich oft vor den riesigen Sportanlagen stehen, die einst „uns“ gehörten, und bestaunte sowohl mir fremde Sportarten wie Feldhockey oder das noch verrücktere Cricket (dessen Regelwerk ich bis heute nicht verstehe) als auch die in witzig anzuschauenden Schuluniformen spielenden Schülerinnen und Schüler.
Die Invasion britischer Soldaten hatte natürlich die Notwendigkeit einer eigenen Schule mit sich gebracht. Diese war sinnigerweise in ehemaligen Wehrmachtskasernen untergebracht – ebenso sinnig ihr Standort am Wilhemshavener Südstrand, wo die FLAKs (Flugzeug-Abwehrkanonen) die in Wellen angreifende fliegende englische Bomber-Armada im 2. WK zumindest teilweise abzuwehren versucht hatten. An und auf dem so genannten Fliegerdeich befanden sich die diversen Gebäudekomplexe der Prince Rupert School.

Warum schreibe ich all' dieses Zeugs hier in einem Beatles-Forum? Weil ohne diese Vorgeschichte der baldige Kontakt zu den Unfab Five nicht klar werden würde – nach dem Motto: Was macht ein noch nicht 17-jähriger Provinzler urplötzlich im Soho von Hamburg?! Nichts geschah urplötzlich; alles entwickelte sich langsam, stetig und folgerichtig, erwuchs aus dem bisher und weiterhin Geschilderten.

Nach bereits 4-jährigem Leistungs-Schwimmsport im SCWF („Schwimmclub Wasserfreunde“) hatte ich mich 14-jährig (1958) auch dem JBRW („Jade-Box-Ring Wilhemshaven“) angeschlossen – weniger um zu boxen, als vielmehr dank des dortigen Konditionstrainings meine Schwimmkondition zu verbessern. - Irgendwann war für die JBR ein Wettkampf gegen die jungen Boxer der Prince Rupert School angesagt. Ich wurde „nominiert“ und absolvierte meinen allerersten Kampf überhaupt, ausgerechnet in der Sporthalle der PRS. Obwohl ich zeit meines Lebens Gewalt ablehnte, sah ich dem Fight doch in froher Erregung entgegen und malte mir aus, wie ich meinen Gegner auf die Bretter schicken würde. Kurz: In der zweiten (und letzten) Minute der ersten (!) Runde traf mich mein Opponent mittels Uppercut am Kehlkopf, was mich minutenlang ins Land der Träume sinken und dort verharren ließ.
Soweit mein erster Kontakt zu einem jugendlichen Tommie -Ältere hatte ich schon zu Hauf' kennen gelernt - , zu dem und zu dessen Freunden auf diese etwas unorthodoxe Weise eine längere Freundschaft begann.
Engländer im Alter meiner Eltern hatten schon früher Musikgruppen aus ihrer Heimat nach WHV geholt, die irgendwelche Musik à la Lonnie Donegan zu kopieren versuchten. 58/59 sah ich zum ersten Mal englische Bands in WHV, importiert aus dem Großraum Birmingham, Manchester, Liverpool. Die schienen „einheimische“ englische Gar nicht- oder Halbmusiker zu motivieren, es ihnen gleichzutun, die natürlich nur vor „ heimischer“ , eben englischer Kulisse auftraten. Deutsche durften unter bestimmten Umständen auch „mal gucken“, zumal die Engländer festgestellt hatten, dass die Deutschen gar nicht die animalischen Monster sind, als die sie in GB immer beschrieben worden waren.


Inspiration unzähliger britischer Nachwuchsbands: Skiffle-König Lonnie Donegan

Vereinzelte heftigste Besäufnisse meiner Eltern und diverser englischer Offiziere nebst Gattinnen trugen zu der raschen Völkerverständigung bei...
Heranwachsende PRS-Schüler berichteten von dem unglaublichen Boom, den Englands Skiffle-Rock'n'Roll-Musik Ende der 50er erlebte, wozu zwei Faktoren mit immensem Einfluss beitrugen: Hafenstädte wie Liverpool (aber auch Hamburg), zu denen G.I.s ihre Platten mitbrachten, wurden als erste von der neuen Welle überrollt. Zweitens: Buddy Holly's entsetzlich früher, unfassbarer Tod zog eine Kettenreaktion von Plattenproduktionen nach sich, die dazu führte, dass Charles Hardin Holley posthum an kaum zu übertreffender Popularität gewann.
Immer mehr Artikel über englische Bands geisterten durch den englischen Blätterwald, den ich in WHV stets zu Gesicht bekam, und man sprach von ersten Engagements britischer Gruppen auf deutschem Boden – leider nicht in Schlicktown, sondern natürlich in Hamburg, das ich bekanntlich schon längst kennen gelernt hatte – allerdings von der gediegenen, vornehmen Seite.

So reifte in dem 15/16jährigen unschuldigen, unbescholtenen, unreifen Knaben der ehrgeizige Wunsch, Haaamburch mal von einer anderen Seite zu erleben. Dies sollte früher als erhofft geschehen.

(Ende Teil II)

Teil III

INTERMEDIUM: Das Buch ...
(With a litte help from my daughter Helena: Ich diktiere, sie tippt.)


Im Frühjahr 1981 – zur Zeit meiner fast dreimonatigen – Verzeihung! - legendären Unterrichtsreihe über die Beatles im Deutschunterricht („Das Phänomen Beatles und die 60er Jahre – von Mauerbau bis Mondlandung, von Cavern Club bis Woodstock“) - war es, als mich ein Verlag für sein Beatles-Opus gewinnen wollte: „It was 20 years ago today – die Beatles und die 60er Jahre“. Erscheinungsdatum Oktober '82, 20 Jahre nach LOVE ME DO.
Da das Buch auch und vor allem politisch-historische sowie kulturelle Hintergründe beleuchten sollte, wurde ich gebeten, eben solches auch zu tun – schlaglichtartig, wobei ich den Bogen zu spannen hatte von meinen ersten Rockmusik-Erinnnerungen bis zur Jetzt-Zeit, '81/'82. Ich tat, wie mir geheißen, wobei ich Diverses über die Beatles-Begegnungen schlicht „verschlucken“ musste. Ein ganzes Buch hätte ich allein schreiben können, doch bestand meine Hauptarbeit aus rigorosem Zusammenstreichen auf ca. 20 Seiten. Als ich ein Beleg-Exemplar erhielt, packte mich das Grauen ob der Flut von ca. 40 Fehlern, ob der Gedankenbrüche (wegen vom Lektor (?) weggeschnittener Reflexionen), ob entsetzlicher halber / unvollständiger Sätze, weil man Zeilen im Druck schlicht vergessen hatte und so für den Rezipienten sachlich falsche Sätze zu lesen waren, als da wären: „Von irgendwoher ((Zeitung), dieses Wort fehlt im Buch!) hatte ich vage ein Foto in Erinnerung, das John Lennon im oder vor dem („Jaracanda“ oder „Iron Door“ oder „Blue Angel“ oder schon ---> diese Wörter fehlen im Buch!) „Cavern“ (?) zeigt.“
Ein anderes Beispiel: „ 'Why don't you all fade away?' regt Pete Townshend provozierend an.“ Mein Manuskript sagt jedoch: “ (...) regt Roger Daltrey (Songwriter ist Pete Townshend) provozierend an.“
Wir nähern uns den beiden Höhepunkten.
„Tage zuvor hatte ich zum achten Male 'Help!' gesehen. Als die Band diesen Song intoniert, sinke ich in und falle ich auf die Knie - (...)“, ist im Buch zu lesen. „Leider wird dieser Song nicht intoniert. Dennoch: Bei SHE LOVES YOU sinke ich in und falle ich auf die Knie (...)“, steht in meinem Manuskript. (Es geht um das Essener Beatles-Konzert 1966.) Rätselhaft, isn't it?!


Irgendwo hier fand der Kniefall Peters statt: Grugahalle Essen, 25. Juni 1966

Je öller , je döller: Wenn ein Leser nicht ganz zu Unrecht annimmt, der Co-Autor sei ein Laienexperte der roaring sixties, dann dürfte ihn die Formulierung „'Good Vibrations' von Gerry and the Pacemakers“ sichtlich irritieren. Mein Manuskript hingegen verrät die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit: „'Good Vibrations' von den Beachboys und 'Ferry 'cross the mersey' von Gerry and the Pacemakers“...

1982 schrieb ich umgehend dem Verlag und teilte ihm mit, dass ich im Falle einer Zweitauflage Einspruch bezüglich meines Buchparts einlegen würde. Schließlich wollte ich mich speziell vor einer bestimmten Käufergruppe nicht blamieren: Schülern und deren Eltern...! Will sagen: Selbst ein guter Autor (falls ich denn einer war/ bin) taugt nichts, wenn sein Beitrag durch ein äußerst ominöses Lektorat, das falsche Sätze und über 40 formale Fehler „einbaute“ sowie durch scheinbar willkürliches Weglassen von Reflexionen Gedanken entstellte, verhunzt wird.


Nach über 20 Jahren (!) las ich unlängst meinen Buchauszug erneut, bedaure im Nachherein, doch relativ wenig über „Haaamburch“ geschrieben haben zu dürfen – der Beitrag wäre ins Endlose ausgeufert - , und belächle manches von mir Geschriebene – heute, 24 Jahre später: Das BBBTK, das Bravo-Beatles-Blitztournee-Konzert in der Essener Gruga-Halle sehe ich heute sicherlich weniger verklärt, und die 70er würde ich heute nicht mehr als „musikalisches Vakuum“ bezeichnen.
1982, nur 12 Jahre nach der Trennung der Fab Four, war ich wohl doch noch zu mystifiziert in der Thematik...

Das als Intermedium vor dem nächsten Teil, sprich: „Kaiserkeller“ (at any time!) ...

Teil IV

KAISERKELLER – PANIK STATT GENUSS

In der zweiten Mitte der 50er Jahre ergoss sich eine wahre Flut amerikanischer Musik auf dem europäischen Kontinent, dort allerdings zunächst in den großen Hafenstädten – quasi Brückenköpfe, an denen sie sich festbiss, bevor sie ins Landesinnere weiterrollte.
Zu Rudi Schuricke und anderen deutschen Herz-Schmerz-Sängern/ -innen traten in harte Konkurrenz Carl Perkins, Jerry Lee Lewis, Elvis, Buddy Holly, Little Richard, Chuck Berry, Bill Haley, Roy Orbison, Brenda Lee, Harry Belafonte (Calypso wurde salonfähig), Ray Charles, Sam Cooke, The Platters, The Drifters, The Coasters, Anthony and the Imperials, Teddy Bears, Dion and the Belmonts, Crescendos, Kingston Trio, später Chubby Checker („Let's twist again!“), Freddie Canon, Frankie Avalon, Paul Anka, Jonny Ray, Bobby Darin, die Shirelles, Crystals, Shangri-Las, Ronettes --- um nur einige wenige zu nennen.
Natürlich konnte man sich in Schlicktown diesem ungeheuren Sog entziehen ,wenn man wollte: Man stellte das Radio nicht an (elfenbeinfarbenes Blaupunktgerät mit „Magischem Auge“ - ist heute noch als „Erbstück“ der Eltern auf meinem Schreibtisch in Funktion) UND mied jeglichen Kontakt zu den „Besatzern“.
1960 und 61 verbrachte die Familie die jeweiligen Sommerferien an der Costa Brava (Sa Riera / Bagur, Spanien). Zehn Jahre später versuchte die family vergeblich zu eruieren, welches Ferien-Ereignis in welchem Jahr stattgefunden hatte : 61? 62? Wie also sollte ich wissen, wann genau ich zum ersten Mal des „Sündenpfuhls“ St.Pauli ansichtig geworden war?! Irgendwann im Herbst 60 war es, und ungewöhnlich warm war es. Wieder fuhren meine Eltern nach Hamburg, und diesmal bedrängte ich sie mitfahren zu dürfen, was ich keineswegs bei allen ihren Fahrten gen HH, Kiel...tat.
Längst schon hatte ich meinem Freund (?) Hans, Sohn der zu besuchenden Bekannten, kontaktiert (damals schrieb man sich noch richtige Briefe!) und ihm von meinem Plan erzählt, in den Großstadt-Rummel, präzise zum Kern St. Paulis, zu gelangen. (Alles nachzulesen im Buchauszug, Kapitel „Der 'Kaiserkeller' oder : 'Ich schlich mich heimlich fort...!'“ (Freddy Quinn in „Junge, komm bald wieder“)) Die Eltern und ihre Freunde besuchten zusammen mit einem anderen mir nicht bekannten Ehepaar das „Hansa-Theater“, um danach irgendwo feucht-fröhlich den Abend/die Nacht ausklingen zu lassen, weshalb sie prophylaktisch per Taxi vom Haus (mit direktem Elb-Blick) ihrer Marine-Freunde starteten.
Ich, adrett, gepflegt wie eh und je von meiner Mutter eingekleidet, entnahm dem mitgebrachten Schlafsack „geschmuggelte“ Kleidungsstücke wie Nietenhose, Nyltesthemd, Schnürsenkelfliege und das WICHTIGSTE, meines Vater schäbig-schmuddlige Lederjacke, die er bei der Gartenarbeit trug.
Hans, in meinen Plan dezidiert eingeweiht, zückte die eigens angefertigte Wegbeschreibung zur Reeperbahn/Großen Freiheit und --- blieb zu Hause!! Die Angst vor der eigenen Courage ließ ihn urplötzlich erzittern, er faselte entschuldigend etwas von randalierenden englischen Radaubrüdern, deren Geschrei man ohnehin nicht als Musik bezeichnen könne.
Scheiße! Egal! Es war keine Zeit zu verlieren! „Halt bloß die Schnauze! Verrat' nix! Ich werde vor Mitternacht zurück sein!“, sagte ich und hetzte los. Wie gut, wenn man seit Jahren durchtrainiert ist! Auch mehrfaches Verlaufen machte mir nichts aus. Das Herzrasen war nicht durch den Dauersprint verursacht worden, sondern durch den Ein- und Umbruch innerhalb meiner Persönlichkeitsentwicklung, die binnen einer Viertelstunde eine brutale, jähe Zäsur erfuhr!
Der wohlbehüteten Atmosphäre des Elternhauses hatte ich mich kurzzeitig entzogen, mich freiwillig in eine mir neue, kalte, fremde Welt katapultiert. Das einzige Gefühl, das mich während der nächsten halben Stunde überwältigte, war Angst, pure Angst. Aufregung, Vorfreude? Keine Spur davon. Den „Kaiserkeller“ als die derzeitige kurzfristige Kultstätte hatte ich schon lange zuvor zu Hause „lokalisert“ ; Heimatzeitungen der Tommies berichteten längst vom Broterwerb Liverpooler (und offenbar nur Liverpooler) Bands in Hamburg. Sporadisch waren deren erste Fotos in typischen Photographier-Posen (schrecklich!) mit kurzen Begleitartikeln aufgetaucht.


Nun stand ich also vor dem „Kaiserkeller“, dessen Eingang Auftritte von Rory Storm and the Hurricans und The Beatles ankündigten, um mich herum grell blinkende Neonreklame.


Das legendäre Kaiserkeller-Plakat von 1960

Das heißt, direkt vor dem „Keller“ stand ich nicht, denn ein unmittelbar vor dem Eingang zu sehender Menschenauflauf stellte sich schnell als Schlägerei heraus, an der offenbar auch Gäste, die von drinnen nach draußen stürmten, beteiligt waren. Das Herz rutschte mir noch tiefer, als ich an der Kasse meinen Obolus entrichtete ; dem prüfenden Blick des Kassierers versuchte ich standzuhalten, verschluckte aber bereits da mein Kaugummi, das mir bewusst das Image des Lässigen geben sollte. Rohes Mobiliar, dicke Rauchschwaden, Schweiß- und Alkoholdünste, zerbrochene Gläser, Kleiderschränke von Halbstarken, mehrsprachiges Stimmengewirr, Bierlachen und Bierleichen versetzten mir einen ungeahnten Schock ; statt Faszination ein Schreckensvision – statt erhofften Wohlbefindens butterweiche Knie, rasender Puls, Adrenalin-Ausschüttung. Minutenlang muss ich so gestanden haben mit stetem Blickkontakt zum Ausgang; statt Vergnügens paralysierende Panikstimmung. Äußerlich dahingehend bestrebt, mich den Gästen anzugleichen, schien mir mein Inneres nur aus Herzklopfen zu bestehen. Ich starrte auf das halbwegs zerbrochene Podest, auch Bühne genannt, und auf die fünf jungen Leute : Wer waren sie denn nun, Rory Storm und Co. oder The Beatles? Von irgendwoher hatte ich vage ein Foto der early Beatles, eben aus jenem englischen Blätterwald, in Erinnerung. Ich fixierte die lautstarken jungen Männer auf der Bühne und war mir dann sicher : Vor mit standen die Beatles! Der eher grölende, stampfende, teilweise verrückt gestikulierende Sänger war --- John Lennon...


Die Beatles als Begleitband von Tony Sheridan (rechts) im Kaiserkeller

Hier und jetzt begann für mich der Beatles-Mythos, den ich nun in never ending stories (Kaiserkeller, Top Ten inklusive small talks, Star Club, Gespräche bei „Gretel und Alfons“, Gruga-Halle Essen...) fortsetzen könnte. Nach einer halben Stunde verließ ich die Stätte, meine, Songs wie „Sweet little sixteen“ gehört zu haben. Ansonsten machte sich die Sehnsucht breit schnellstens wieder in „gesicherte Gefilde“ zu gelangen.
Selbstverständlich erfuhren die Eltern von meinem tolldreisten nächtlichen Ausflug – entsprechende Sanktionen nahm ich mit bemerkenswerter Gelassenheit in Kauf --- denn irgendwie fühlte ich, nahm ich wahr: So komisch dieser erste zaghafte Kontakt war - es hatte gefunkt. Dass ich die Beatles noch über zehn Mal in Hamburg sehen würde, ahnte ich an jenem Abend nicht, noch weniger, dass ich mit ihnen quatschen würde... Der Abend, der allein eines Buches würdig wäre : eine seltsame Atmosphäre von totaler Anspannung, teilweise panischer Angst einerseits, positiver Vorahnung andererseits...
Noch heute, 62jährig, zehre ich von diesem für mich historischen Tag!

BEATLES FOREVER !!!



Kommentare
6 Kommentare vorhanden

#1 by Dr. O'Bell
Hi Peter,

ich freue mich, dass wir jetzt für die äußerst interessante und lebendige Schilderung deiner Erinnerungen einen würdigen Rahmen gefunden haben. Danke!

Viele Grüße,
Ansgar

P.S.: Jetzt, da es Beatles-technisch erst richtig zur Sache geht [Top Ten, Gretel & Alfons, Star Club, dein Interview (!!!) etc.], fehlt eigentlich DRINGEND eine Fortsetzung!

#2 by Joachim
Vielen vielen Dank für diesen Beitrag! In den Features sollten viel mehr Beiträge dieser Art stehen. Vielleicht raffe ich mich auch mal wieder auf.

#3 by Don Marino
Super Peter, und mach mal schön weiter! :-)

Danke, Ansgar, für die Zusammenfassung.

Gruß
der Don

#4 by Micha
Hallo Peter,
danke für deinen eindrucksvollen lebendigen Bericht. Wenn nicht hier, in den Features, wo sonst hätte er besser hinein gepasst?!
Danke auch an Dr.O'Bell für die verdiente VÖ hier!

viele Grüße
Micha

#5 by Germanbeat
Super interessant, authentisch und ohne dick aufzutragen. Den Link muss ich gleich bei mir einbauen.

#6 by Gert
Ganz toll der Bericht, besonders das Bild die Beatles auf der Bühne von hinten. Das gibt absolut die Stimmung wieder. Ich bin mittlerweile 55 und habe ende der 60er und auch angefangen Musik zu machen (mit band), war allerdings in der ehemaligen DDR etwas schwierig. Selbstgebaute Boxen usw. Demnächst kommt auch ein Bericht wie es uns damals ergangen ist. In unserem Repartoire war von den Beatles Misery, Twist and Shout, PS I love you .... Alles vom Tonband abgeschrieben und dann geübt. Schade, die Zeit kommt nicht wieder, umso schöner in solch einer Web Site zu stöbern.Danke und viele Grüße aus Eisenach, Gert